Als ich im Jahre 1975 eine Professur am Institut für Psychoanalyse des Fachbereichs Psychologie der J.W.Goethe-Universität Frankfurt antrat, wurde ich auf einer Tagung zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen Prof. Clemens de Boor und Prof. Rudolf Ekstein, der aus den USA in das Sigmund-Freud-Institut zu einem Besuch gekommen war. Sie ereiferten sich bei dem Gedanken, dass die Psychoanalyse zugrunde gehen müsse, wenn sie an die Universität geriete. Ich war etwas erschrocken darüber, dass ich womöglich etwas Unrechtes und Unheilvolles täte, wenn ich diesen Weg ginge. Heute kann ich mich fragen, was sie wohl gemeint haben mögen und worin sie Recht oder Unrecht hatten. Es hängt wohl davon ab, was man unter Psychoanalyse versteht. Meint man damit die Ausbildung zur Psychoanalyse im klassischen Sinne, d.h. die Trias aus theoretischer Unterrichtung, Lehranalyse und Supervision, dann sind es vor allem die letzteren beiden Bestandteile, welche sich den Bedingungen der Universität nur sehr schwer anbequemen können. Vor allem ist es der Einfluss von dritter Seite, welcher grosse Probleme erzeugen kann. Das beginnt schon mit der Auswahl der Kandidaten, der gebotenen Unabhängigkeit des Kandidaten von Vorgesetzten und Prüfern oder der Begrenzungen der Ausbildungszeiträume. Von daher ist es verständlich, dass die beiden erfahrenen Kollegen damals die Universität fürchteten.
Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man Psychoanalyse als eine Wissenschaft vom Menschen und seinem unbewussten Erlebnishintergrund ansieht, mit ihren Befunden von psychischer Entwicklung und Objektbezogenheit seit dem frühesten Kindesalter, in ihrer Sicht von der unvermeidlichen Konflikthaftigkeit seelischen Geschehens, dessen triebhafter Grundierung und seiner Strukturiertheit. Diese Wissenschaft hat seit dem 20. Jahrhundert auf die Humanwissenschaften und die Gesellschaftswissenschaften ausgestrahlt. Viele Fächer und Wissenschaftler beschäftigen sich damit, und es ist ein zusätzlicher Gewinn, wenn auch psychoanalytische Fachleute in engerem Sinn ihren Beitrag an der Universität zum interdisziplinären Diskurs leisten. Ist das Fach Psychoanalyse in einem psychologischen Fachbereich angesiedelt, dann ergibt sich die Frage, welche speziellen praktischen Lehrinhalte zum Studium der Psychologie beitragen können.
Die Integration des Faches Psychoanalyse in einen psychologischen Fachbereich ergab sich als historischer Sonderfall durch die Einrichtung eines Lehrstuhls für Alexander Mitscherlich an der Universität Frankfurt 1973, den er bis 1976 innehatte. Aus ihm entstand ein Institut mit drei Hochschullehrerstellen, die seit 1974/75 mit Hermann Argelander, Peter Kutter und mir besetzt wurden. Seine Stellung im Fachbereich war nicht unumstritten. Das Universitätsfach Psychologie hatte sich seit Ende der 50-er, Anfang der 60-er Jahre unter dem Einfluss aus den U.S.A. zunehmend als empirisches und sogar naturwissenschaftliches Fach verstanden. Wenn auch die Begriffe „empirisch“ und „naturwissenschaftlich“ in ihrem Bezug zur Psychologie äusserst problematisch sein mögen, war die Tendenz doch deutlich, nur solche Fragen und Forschungsgegenstände anzuerkennen, welche sich einer mit statistischen Methoden untermauerten Methodologie unterwerfen liessen. Die langfristige und minutiöse Beobachtung psychischer Prozesse und deren interpretativer Aspekt gehörten nicht dazu. Daraus folgte die allmähliche Verdrängung der tiefenpsychologischen Anteile aus dem Studiengang Psychologie. Dieser Prozess war zu Beginn der 70-er Jahre abgeschlossen, und es war kein Wunder, dass die Implementierung des Faches Psychoanalyse in den Fachbereich Psychologie auf erbitterten Widerstand stiess. Ergebnis eines längeren Prozesses der Auseinandersetzung war die erneute Exilierung der Psychoanalyse aus dem Fächerkanon der Psychologie, was aber aus Gründen der Universitätsstruktur auch ihre Vorteile hatte. Psychoanalyse als separates Fach neben der Psychologie bekam eine eigene Promotionsmöglichkeit (Dr. phil. in Psychoanalyse) und wurde Nebenfach in den Magisterfächern. In der Prüfungsordnung für Psychologie fungierte Psychoanalyse lange Zeit als Wahlpflichtfach. Allerdings durften die Hochschullehrer für Psychoanalyse nicht im Fach Klinische Psychologie unterrichten und prüfen, was während meiner gesamten Dienstzeit von fast 25 Jahren als Absurdität bestehen blieb. Erst nachdem das Institut in den 90-er Jahren aufgelöst wurde, weil nur noch eine Hochschullehrerstelle übrig geblieben war, hat man sich auch in Frankfurt entschlossen, den Hochschullehrer für Psychoanalyse auch in Klinischer Psychologie prüfen zu lassen. Damals jedoch mussten und konnten die Psychologiestudenten das Lehrangebot des Instituts für Psychoanalyse nur mit der Bereitschaft nutzen, zusätzliche Zeit dafür aufzuwenden. Das taten sie in grossem Umfang. Die zweite Hälfte der 70-Jahre bis gegen Ende der 90-er war eine Hochblüte des Ansehens und Wachstums der Psychoanalyse an der Universität Frankfurt. Dabei muss man im Auge behalten, dass nur im sogenannten Grundstudium unterrichtet wurde. Eine Ausbildung von Psychoanalytikern war nicht beabsichtigt. Sie war schon immer eine Postgraduierten-Weiterbildung und blieb es auch, nachdem sie durch das Psychotherapeuten-Gesetz von 1999 für die Psychologen eine Ausbildung mit Staatsexamen wurde.
Für die Hochschullehrer ergaben sich zwei Schwerpunkte. Der eine war die Vermittlung der allgemeinen Grundlagen des Faches durch Einführungsvorlesungen und Seminare in Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitspsychologie und Krankheitstheorie, was im Kontakt mit Hochschullehrern aus den Nachbarfächern und in bunter Reihenfolge durch Lehrveranstaltungen über Themen der Literaturwissenschaft, Soziologie, Theologie, Ethnologie, Pädagogik, Philosophie und Wissenschaftstheorie erweitert wurde. Dieses variable und attraktive Lehrangebot zog viele Studenten an, die z.B. Psychoanalyse als Nebenfach im Magisterstudium wählten.
Der andere Schwerpunkt wurde das Lehrangebot speziell für Psychologiestudenten. Hier ergab sich die Arbeitsteilung durch die Interessen der drei Fachvertreter. Argelander hatte schon vor seiner Universitätszeit mit Fachleuten aus dem sozialen Feld (z.B. Theologen) gearbeitet, die ihre spezifischen professionellen Aufgaben mit psychologischem Verstehen verbinden wollten. Aus diesen Vorerfahrungen entwickelte er ein Beratungsmodell, in welchem fortgeschrittene Psychologiestudenten unter Supervision Beratungen durchführten. Das Modell enthielt einen Forschungsanteil und führte zu etlichen Publikationen.
Ein wichtiges Interesse Peter Kutters galt der Gruppenpsychotherapie, und es ist sein besonderes Verdienst, dass er den Mut hatte, mit studentischen Gruppen zu arbeiten und sie auf diese Weise mit den Elementen von Psychotherapie und Gruppenarbeit bekannt zu machen.
Ich selbst betrachtete es – im Grundberuf Diplom-Psychologe neben zwei Medizinern – als meine Aufgabe, praktische psychologische Diagnostik zu unterrichten. Dabei konnte ich mich auf die Erfahrungen meiner eigenen diagnostischen Ausbildung am Psychologischen Institut der Universität Freiburg stützen, an der Robert Heiss ein mehrsemestriges Lehrprogramm eingeführt hatte. – Diese Tradition haben auch Prof. Vogel und Dipl.-Psych. Muck am Sigmund-Freud-Institut fortgesetzt. – Zentrale Bestandteile waren die Rorschach-Diagnostik, die Thematischen Tests und die Gutachtenseminare, in denen die Auswertung von ganzen Testbatterien geübt wurde. Die Reaktionen von Menschen auf die Darbietung der Rorschach-Tafeln, welche in ihren verbalen und nichtverbalen Bestandteilen genau beobachtet und protokolliert werden müssen und nach einem mehrdimensionalen System ausgewertet werden, trainieren den Psychologen vor allem in der Beobachtung von kleinsten Wahrnehmungs- und Erlebniseinheiten bzw. Verlaufsgestalten seelischen Geschehens, was meiner Ansicht nach ein Hauptmerkmal ist, durch welches sich Psychoanalyse von anderen Psychotherapieformen unterscheidet. Die Thematischen Tests – überwiegend Thematischer Apperzeptionstest und Object-Relations-Technique – trainierten den Psychologen darin, über die Interpretation der Geschichteninhalte ( unter besonderer Beachtung der Abweichungen vom sogenannten Aufforderungscharakter) hinaus formale Eigenschaften der Produktion von Phantasiegeschichten zu beobachten, nach dem Motto von Rapaport „Wie wird die Geschichte erzählt?“.
Die Kurse in der Rorschach-Diagnostik waren auf drei bis vier Semester angelegt, die in Thematischen Tests auf zwei Semester und es folgten wie in Freiburg ein bis zwei Semester in der Gutachtenpraxis.
Natürlich hat eine Reihe von Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern des Instituts dessen Arbeit mitgetragen und nicht wenige konnten sich zu Hochschullehrern, Forschern und praktischen Psychoanalytikern weiterqualifizieren
Das Lehrangebot des Instituts für Psychoanalyse, welches nach dem Ausscheiden Argelanders mit Frau Rohde-Dachser (ab 1987) im Wesentlichen unverändert fortgeführt wurde, war so umfangreich, dass es dem Postgraduiertenstudium bis zur Zwischenprüfung des sogenannten Vorkolloquiums von Ärzten und Psychologen am Sigmund-Freud-Institut entsprach und es in den diagnostischen Anteilen sogar übertraf. Der so auf den Beruf des Klinischen Psychologen oder Psychotherapeuten bestens vorgebildete Diplom-Psychologe traf jedoch beim Einstieg in das Berufsleben auf eine Lücke. Er konnte nämlich nicht nahtlos seine Ausbildung in Psychoanalyse fortsetzen, weil damals eine mehrjährige Berufserfahrung Voraussetzung zur Zulassung am Sigmund-Freud-Institut und anderen Instituten war. – Heute träumen die psychoanalytischen Ausbildungsinstitute von jungen Absolventen, die sie seinerzeit nicht zulassen wollten. – Jedenfalls führte die kuriose Situation zu ernsthaften Überlegungen, wie man diese Lücke überwinden könnte. Es entstand 1978 eine „Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytische Psychologie“, deren Ziel es war, Diplom-Psychologen in Klinischer Psychologie und Psychotherapie weiterzubilden. Zielgruppe waren also nicht nur zukünftige niedergelassene Psychotherapeuten, sondern auch Psychologen, die in Kliniken und Beratungsstellen psychoanalytisch orientiert arbeiten wollten. Die Arbeitsgemeinschaft musste aus formalen Gründen als eingetragener Verein öffentlich gemacht werden und arbeitete mit einer parallelen Medizinergruppe zur Vorbereitung auf die Zusatzbezeichnung Psychotherapie eng zusammen. Obwohl diese Weiterbildung – in Kurzform als „Werthmann-Ausbildung“ bekannt geworden – auch auf naheliegende Bedenken und Widerstände stiess, beteiligten sich doch viele Frankfurter Psychoanalytiker als Lehrtherapeuten und Supervisoren. Bis zum Psychotherapeutengesetz beendeten mehr als hundert Absolventen die Ausbildung, welche nach damaligen und heutigen Maßstäben der in „Tiefenpsychologie“ entsprach. Viele von ihnen wurden im sogenannten Erstattungsverfahren erfolgreich tätig und nach 1999 unter dem neuen Gesetz approbiert. Sie leisteten einen erheblichen Beitrag zur psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung. Nicht wenige schlossen noch eine Ausbildung in Psychoanalyse an.
Im Nachhinein kann man die Jahre von Alexander Mitscherlichs Berufung und der Gründung des Instituts für Psychoanalyse im Fachbereich Psychologie der J.W.Goethe-Universität Frankfurt bis in die 90-er Jahre und das Psychotherapeutengesetz nur als eine goldene Zeit der Psychoanalyse betrachten. Der Beweis wurde erbracht, dass Psychoanalyse an der Universität lebendig und erfolgreich gelehrt werden kann.
Prof. Dr. phil. Hans-Volker Werthmann
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