Vor kurzer Zeit kursierte die Forderung eines verpflichtenden sozialen Jahres für Rentner mit 15 Arbeitsstunden die Woche des Philosophen Dr. Richard David Precht. Die Menschen würden mit der Erfüllung dieser Forderung ihrer sozialen Verpflichtung hinsichtlich des demographischen Wandels, also der Strukturveränderung der Altersschichten in der Gesellschaft, nachkommen.
Der zentrale Punkt dieser Erwartungshaltung scheint die Definition des Begriffes von Gerechtigkeit zu sein. Zunächst wollen wir unsere aktuelle gesellschaftliche Situation mit dem Fairness-Begriff untersuchen und anschließend den Fokus auf die problematische Situation zwischen Psychologie und Psychoanalyse an der Hochschule legen.
Wenn wir an dieser Stelle die Forderung von Richard David Precht noch einmal aufgreifen, sei das Arbeiten des Rentners im Sinne einer ausgleichenden Reziprozität bezüglich sozialer Gerechtigkeit zu sehen, denn wenn die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilt werden, muss der Rentner das Recht auf die Rente erhalten. Seine Pflicht, auch aufgrund des demografischen Wandels der Gesellschaft, weiterhin soziale Unterstützung zu liefern endet aber mit dem Erhalt der Rente nicht. Folglich handelt es sich um eine Gerechtigkeit im Sinne der Moral. Wir nennen dies Moral-Gerechtigkeit. Um zu postulieren inwieweit sich unsere Gesellschaft ändern muss, um moralisch-gerecht zu werden, müssen wir zuerst Aspekt-orientiert den derzeitigen Stand der Gesellschaft veranschaulichen.
Das Bild der Moral stellt sich eben nicht im Interesse des Allgemeinwohls, sondern im Interesse der angehörigen Subgruppe dar. Vor allem durch die verschiedenen Angebote der Medien wird die aktuelle moralische Einstellung gespiegelt, denn über Einschaltquoten kann das Interesse für bestimmte Sendungen gemessen werden und daran lässt sich wiederum die moralische Einstellung ablesen, wenn wir davon ausgehen, dass Interesse und moralische Einstellung gleichzusetzen sind. Die Masse wird durch Sendungen bewegt, die vor allem durch Abwerten eines Objekts und eigenes narzistisches Aufwerten gekennzeichnet sind.
Offensichtlich existiert ein dreidimensionaler Ansatz. Die erste Dimension des Ansatzes stellt einen vordergründigen dar, bei dem ganz offensichtlich abgewertet wird. Unter der zweiten Dimension verstehen wir solche Sendungen, welche die verzerrte Wahrnehmung und den daraus folgenden öffentlichen Auftritt von Mitbürgern als Anlass für ihren Humor nehmen. Die Gipfelung dieses Ansatzes besteht in der Abwertung der gesamten Persönlichkeit. Die Sozialpsychologie lehrt uns, dass Menschen dazu neigen, ihre Erfahrungen in ihrem Selbst als kohärent zu speichern. Folglich ist es wahrscheinlich, dass Menschen, wenn sie Sendungen sehen, in denen ganz offensichtlich ein Objekt abgewertet wird, – wenn es sich hierbei n.i.c.h.t um eine Inszenierung eines Theateraktes handelt – sie es der Sendung gleich tun, also anderen Objekten auch abwertende Tendenzen zu spüren geben und sich selbst damit erheben, um Kohärenz zu erzeugen.
Was wir beruflich tun, was wir privat tun, wirkt sich auf unsere Persönlichkeit aus. Menschen bewerten auf Grund ihrer Fähigkeit sich ihres Verstandes zu bedienen. Wenn sie werten, dann entscheiden sie sich, ob sie sich damit identifizieren oder nicht. Falls sie Sendungen, in denen abgewertet wird schauen, müssen sie sich demnach so weit identifizieren, dass es ihnen überhaupt möglich ist, dies anzusehen. Es meint uns als müsste ein Identifikationsschwellenwert erreicht werden, um die Zuschauer adäquat zu reizen und ihnen somit ein Stück ihres Selbst widerzuspiegeln. Deswegen impliziert jenes, dass die Wahrscheinlichkeit einer Imitation besteht.
Der Aspekt des subjektiven Verständnisses von Moral spiegelt sich aber nicht nur in der Masse, sondern auch im Verhalten einzelner wieder. Die Guttenberg-Affaire zeigt, dass es Menschen gibt, die sich trotz gerichtlicher Feststellung einer Straftat nicht mit dem Fehlverhalten identifizieren. Sie schieben die Schuld auf Umstände und werden vom System belohnt, durch den Erhalt einer Beraterstelle bei der EU-Kommission. Anhand der Tatsache, wie die Gesellschaft auf die moralischen Fehltritte des Einzelnen reagiert und die Masse mit unmoralischem Medienkonsum konditioniert, können wir feststellen, dass diese sich für uns als ungerecht darstellenden Moraleinstellungen, bis ins Mark des Systems reichen. Das System, also die gesamte Struktur der Wirtschaft, Politik und Bildung, ist in rigiden Mustern verwurzelt. Anhand dieser Darstellung lässt sich feststellen, dass unsere Gesellschaft alles andere als moralisch-gerecht ist.
Die Kunst moralisch-gerecht zu sein wird auch, aufgrund der Anforderung der adäquaten Erfüllung empirischer Wissenschaft, an unseren deutschen Hochschulen vernachlässigt. Die Thematik, die wir hier im Auge haben, betrifft das Verhältnis zwischen der Psychologie und der Psychoanalyse. Psychoanalyse versteht sich als eine hermeneutische Methode, im Gegensatz zur Psychologie, die sich als Naturwissenschaft betitelt und damit statistische Untersuchungsmethoden verwendet.
Psychoanalyse wird von der Psychologie getrennt und damit hat sie so gut wie keinen Stellenwert an der deutschen Hochschule. Dies liegt wohl vor allem daran, dass die Psychoanalyse im privaten Wiener Kreis um Sigmund Freud, als Galionsfigur, entwickelt wurde und den Weg an die Hochschule vorerst nicht zu erreichen gedachte. Joachim Küchenhoff erklärt die Sonderstellung der Psychoanalyse zusätzlich auf einer anderen Ebene, dass sie nicht nur deshalb schlecht vertreten wäre, weil sie sich „verlaufen“ habe, sondern vor allem, weil ihr der „Weg auch abgeschnitten“ oder falls sie schon da ist, beispielsweise in der Universität in Frankfurt, das „Wasser abgegraben“ ist, da es dort Psychoanalyse nur als Nebenfach, als alternative Ergänzung zur Psychologie gibt.
Als Sigmund Freud 1919 das Fazit zog „Die eigentliche Psychoanalyse als Methode können Studenten an der Universität nicht lernen“ hatte er damit sicherlich Recht, jedoch wird man an der Universität ebenfalls nicht zum Verhaltenstherapeuten ausgebildet, was impliziert, dass alle verfügbaren theoretischen Konstrukte lernbar sein müssen. Psychologie darf nicht gleichgesetzt werden mit den empirischen Verhaltenswissenschaften, wenn Statistik gelehrt wird, sollten somit zu gleichen Teilen Module der Hermeneutik angeboten werden. Doch von einer gleichverteilten Fächerorientierung im Modulplan sind wir an deutschen Hochschulen weit entfernt. Im Gegenteil ist es keine Seltenheit, dass von der Psychoanalyse durch Dozenten abgeraten wird, die die anerkannte Therapiemethode in ihrem Sein nicht akzeptieren.
„ Was wir uns nicht erfliegen können, das müssen wir uns erhinken“
So zitierte Sigmund Freud den Dichter Rückert. Dieser Spruch macht uns deutlich, dass Dinge, die schwer fallen, trotzdem erreichbar sind. Wirft man einen Blick auf die universitäre Hochschullandschaft, so zeigt sich, dass dieser Spruch auf die analytisch interessierten Studenten zutrifft, denn die Psychoanalyse muss man sich erhinken.
Auch Joachim Küchenhoff greift diesen Aspekt auf, indem er schreibt „Psychoanalytiker zu sein, wird auch im 21 Jahrhundert eine Tätigkeit bleiben, die in vielfältiger Hinsicht auch „Jenseits des Lustprinzips“ steht“. Wenn wir also die Psychoanalyse zurück an die Hochschule fordern unterliegt das dem Motiv der Gerechtigkeit. Hierbei besinnen wir uns auch auf Kant, der sagte „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.“ Wenn wir Kants Aussage auf die Hochschullandschaft anwenden, würde das bedeuten, dass wir bei so viel bestehender Ungerechtigkeit unseren Wert auf Erden verlieren. Um die Diskussion, ob die Psychoanalyse an die Hochschule sollte oder nicht, ordnet sich zirkulär die Frage der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse. Dabei wäre es nur gerecht der Psychoanalyse einen Stellenwert zu geben, denn um das Problem der Unwissenschaftlichkeit adäquat zu lösen, braucht sie doch genau diese Unterstützung und die Subventionen des Systems.
Wenn Psychoanalyse als unwissenschaftlich tituliert wird, ist es wichtig, dass erkannt wird, dass dies lediglich aus der Perspektive der Naturwissenschaften zu sehen ist. Mitscherlich, ein berühmter Analytiker, konkretisierte zu Lebzeiten „Die Verhaltensforscher simplifizieren die Wissenschaft, indem sie behaupten, nur das habe Anspruch, als wissenschaftlich anerkannt zu werden, was zählbar, meßbar und experimentell wiederholbar ist. Daß man auch Gezähltes und Gemessenes verstehen können muß, mögen manche von ihnen nicht einsehen.“ Weiter postulierte Mitscherlich, dass die „Prämisse der Humanwissenschaften“ eben sei, dass der Mensch „nicht aufgeht wie eine messbare Gleichung“. So stimmen wir doch alle überein, dass kognitive Prozesse eben nur begrenzt messbar sind und auch Heraklit war sich dessen Bedeutung bereits vor über 2500 Jahren bewusst, als er schrieb „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn Du auch alle Wege absuchtest; so tiefgründig ist ihr Wesen“ Dieses Zitat von Heraklit gilt nach Mitscherlich auch für die „zwei Psychologien“ , die Positivistische und die Hermeneutische. Zum Teil schließen sie einander aus, aber zum Teil können sie einander auch ergänzen. Eine einheitliche Psychologie wird es seiner Auffassung nach nicht geben, weil die Art des Forschens und Fragens sowie die wissenschaftlichen Ziele beider Psychologien so weit entfernt liegen. Der Psychoanalytiker Müller-Pozzi greift diese Thematik im Hinblick auf das differenzierte Wissenschaftsverständnis auf: „Die Psychoanalyse kann nie beanspruchen, empirische Wissenschaft im Sinne der kontrollierbaren, positiven Verhaltenswissenschaft zu sein.
Ob man der Psychoanalyse den Status einer Wissenschaft zubilligt oder nicht, hängt vom Wissenschaftsverständnis ab, das man einer Erkenntnistheorie zugrunde legt.“ Nach unserem Verständnis hat das Anerkennen der Psychoanalyse allerdings nichts mit dem Wissenschaftsverständnis auf verschiedenen Ebenen zu tun. Psychoanalyse darf weder in eine esoterische Ecke geschoben werden oder nur anhand subjektiv empfundener psychoanalytischer Wahrnehmung nachvollzogen werden, noch soll sie mit der empirischen Naturwissenschaft gleich gesetzt werden; wie Kritiker beispielsweise Grünbaum es taten.
Die Psychoanalyse soll sich ihr „anders sein“, auf welches Müller-Pozzi, wie wir meinen, anspielt, erhalten, sich aber auf ihre Weise wissenschaftlich weiter bilden. Dass sie das tut, steht ohne Zweifel fest, denn sie bedient sich eines eigenen diagnostischen Systems (OPD). Des Weiteren lässt sich die therapeutische Arbeit extern mit empirischer Wissenschaft überprüfen.
Es ist außerdem wichtig hier zu unterscheiden zwischen dem psychoanalytischen Theoriegebilde und der psychoanalytisch-therapeutischen Situation. Die therapeutische Situation ist eine private. Es entsteht eine analytische Situation in der, wie Kohut behauptet, ein dritter nicht dazugehört. Er vergleicht die analytische Situation mit der sexuellen Liebe, denn die Gegenwart eines Dritten führt entweder zur „Verflachung der Gefühle“ oder zur „Primitivisierung“.
In Sinne der Nachvollziehbarkeit ist auch die Anerkennung der Weiterentwicklung der Analyse zu beachten. Wenn Küchenhoff schreibt „Sie kann verlangen, dass auch sie an ihrer komplexen Zeitgenössischen Theoriebildung und Empirie gemessen wird. Häufig wird sie auf einem Niveau kritisiert, der weit von ihrem eigenen Entwicklungsstand entfernt ist.“ greift er ein alltägliches Phänomen an deutschen Hochschulen auf. Psychoanalyse wie sie zur Entstehungszeit war, wird gleichgesetzt mit verhaltenstherapeutischen Verfahren im Hier und Jetzt. Das nach dem Wiener Juden Sigmund Freud und seiner Gründungszeit enorme Fortschritte vollzogen wurden, dass es Objektbeziehungstheorien und die Selbstpsychologie gab, davon hört man im Psychologie Studium eher wenig. Wenn die Psychoanalyse kritisiert wird, dann wird sie an der Person Sigmund Freud kritisiert, dann wird sich an Begriffen aufgeschaukelt, die jedoch aus dem Kontext der Entstehungszeit zu kritisieren sind. Abgesehen von der Tatsache, dass Freud natürlich vor dem Hintergrund der Entstehungszeit interpretiert werden sollte scheint es, wenn man sich mit Freuds texten auseinander setzt, wie Mitscherlich meint „absurd allein schon von der Sprache her, Freud Irrationalität zu unterstellen und damit kritischen wissenschaftlichen Geist abzusprechen.“ Alles in allem herrscht ein zerrüttetes Verhältnis zwischen der Psychoanalyse und der Psychologie. Kutter greift die Möglichkeit der Ursache für das zerrüttete Verhältnis auf: „Die Psychologie überrundet die Psychoanalyse in Forschung und Publikation schon in der Zahl der Veröffentlichungen. In namenhaften Fachzeitschriften gerät die Psychoanalyse gegenüber der Psychologie ins Hintertreffen. Sie betreibt relativ wenig Forschung.“ Diese Kritik führt uns wieder zu dem Punkt, dass die Hochschulpolitik es der Psychoanalyse ermöglichen muss, sich an der Hochschule zu etablieren, denn ein wissenschaftliches Standbein baut man auch an einem wissenschaftlichen Ort auf. Küchenhoff hat genau dies gefordert. Es sei notwendig, dass die Psychoanalyse eine wissenschaftliche Heimat habe. Wer forschen will, brauche Geld und Zeit dafür, einen verbrieften Freiraum und die Anerkennung der eigenen Fragestellung durch die scientific community. Ohne diese Rahmenbedingungen könne sich eine Wissenschaft nicht entwickeln. Der bestehende „Gegensatz: Positivismus gegen Hermeneutik“ wie ihn Mitscherlich betonte, ermöglicht keine einheitliche Psychologie, weil die „Art des Forschens und Fragens sowie die wissenschaftlichen Ziele beider Psychologien so weit auseinander liegen“. Gerade weil zwei Psychologien existieren, muss die Psychoanalyse an der Universität etabliert werden. Kohut sieht das Problem der psychoanalytischen Etablierung an der Universität ebenfalls ganz deutlich. Er schrieb „in der Entstehungszeit war die größte Gefahr, der die Analyse ausgesetzt war, der Mangel an wissenschaftlicher Diszipliniertheit: Bereits Freud warnte vor der „wilden Analyse“. Obwohl die Analyse sich bald eines hundertjährigen Bestehens wird rühmen können, ist diese Gefahr noch immer nicht vorüber.“ Er prophezeit der Analyse eine „große Zukunft“ , betitelt sie als (…) eine Wissenschaft (…), die eigentlich noch in den Kinderschuhen stecke. Außerdem diagnostiziert er ihr eine vorzeitige Senilität, eine „Senilität der Kindheit“. Was die Psychoanalyse seiner Meinung nach braucht, sind „mutige Analytiker, junge, schöpferische Geister, die das wesentliche der Analyse verstanden haben und nicht im Formell-traditionellen steckengeblieben sind“.
Immer weniger der jungen Analytiker betreten den öffentlichen Raum des Systems. Ehrgeizig motivierte Vertreter müssen es ermöglichen wollen, der Analyse auch an staatlichen Hochschulen Gehör zu verschaffen, um Studenten die Freiheit zu geben zwischen den beiden Gegensätzen Positivismus und Hermeneutik sich dem Gebilde anzunehmen, welches sie interessiert und eine Identifikation ermöglicht. Ohne Vertreter verschiedener Theorien wird den Studenten diese Freiheit geraubt. Diese Problematik des fehlenden Enthusiasmus thematisiert auch Kohut, indem er postuliert: „Ohne die Fähigkeit enthusiastisch zu sein, ist man im Weltgetriebe verloren. Man muß in der Tiefe der Seele reagieren können, wenn man sich im sozialen Getriebe erhalten, wenn man im sozialen Getriebe das Gute mutig unterstützen will.“
Bei aller besonnener Zurückhaltung müssen die Psychoanalytiker mutig und enthusiastisch für ihre alte und trotzdem unreif gebliebene Wissenschaft einstehen, sie verteidigen und sie weiterentwickeln, sie müssen sich dafür einsetzten, dass sie es Wert ist Gehör zu bekommen. Denn, wenn sie nicht selber von ihrer Aussagefähigkeit überzeugt sind, oder denken, sie sind nicht verpflichtet der Psychoanalyse eine Stimme zu verschaffen, dann wird die Psychoanalyse vielleicht weiter untergehen. Selbstbewusstsein und Enthusiasmus, das kann man den Vertretern der Psychoanalyse nur wünschen, denn es kann nicht verkehrt sein, sich für die richtige Sache enthusiastisch einzusetzen.
So fordert Küchenhoff, dass die Psychoanalyse im Dialog mit den Nachbarwissenschaften selbstbewusster auftreten könne, als sie dies manchmal tue. Das Berufsrisiko der analytischen Zurückhaltung meint uns eine Regression in eine Passivität zu sein. Bei dem Subjekt mag die Zurückhaltung sinnreich zu funktionieren. Zwar muss der Analytiker dem Patienten Raum geben, er muss ihn eine Weile „tragen“ und in ihm die Lösung finden, doch eine Gesellschaft wird man mit Passivität nicht weiterentwickeln und verändern können. Der Analytiker Moser trifft das ziemlich genau mit dem Satz „Vom bloßen Interpretieren und Zurückspiegeln wird die Welt nicht besser. Unsere Gesellschaft braucht ein aktiv zurückgespiegeltes Bild davon, wie sie werden soll, mindestens aber: wie sie nicht bleiben darf.“
Wenn man in Berührung mit der Psychoanalyse kommt, sei es als Patient, Ausbildungskandidat oder gar Analytiker, dann hat man etwas ungewöhnlich Hilfreiches aber nicht allgemein Zugängliches erfahren. Diese Erfahrung wirkt als Last, da die nicht vorhandene Zugänglichkeit für die Gesellschaft sich als eigene Schuld und Scham auf den analytisch Interessierten auswirkt.
Die psychoanalytischen Erkenntnisse dürfen nicht einfach so bestehen, sie sollten einem Zweck dienen, dem Zweck etwas in der Welt zu bewirken. Ohne Forschung wird das allerdings nicht möglich sein, denn die Psychoanalyse kommt nicht über die Praxisschwelle, wenn sie sich nicht an der Universität als Wissenschaft etabliert wird.
Wenn wir uns damit beschäftigen was die Psychoanalyse für die Gesellschaft tun kann, meint uns die Frage entscheidend: „Wie hätten die familiäre Umwelt und die helfenden sozialen Eingriffe aussehen müssen, die die Herausbildung einer schweren Neurose hätten mildern oder verhindern können?“ Diese Frage ist ebenfalls nicht neu, sie ist von Moser, doch sie wurde anscheinend vergessen. Er schrieb vor einigen Jahren „Es wird zu wenig reflektiert, wie mit Menschen in Gesellschaft, in Kinder – und Fürsorgeheimen, in psychiatrischen Krankenhäusern, Behindertenanstalten, Gefängnissen, aber auch Kindergärten und Schulen umgegangen wird, weil das analytische Instrument der Erforschung unbewusster Vorgänge, die dort ja keine geringe Rolle spielen, kaum angewandt wird.“ So erscheint uns die Nichtbeschäftigung mit diesen Fragen als blind gegenüber der gesellschaftlichen Verantwortung. Wie können wir bei der derzeitigen gesellschaftlichen Situation rechtfertigen, dass Psychoanalyse nur Anwendung auf Einzelpatienten erfährt?
Es gibt einige psychoanalytische Berühmtheiten, die sich in politische und gesellschaftliche Diskussionen eingemischt haben, allerdings eine verschwindend kleine Zahl. So ist beispielsweise zu hoffen, dass die Bemühungen von Horst Eberhardt Richter nach seinem Tod nicht in Vergessenheit geraten und haltlos verloren gehen. Es ist in allgemeinem Interesse, dass die Zahl der Analytiker, die mutig für Weiterentwicklungen der Gesellschaft kämpfen größer wird, nicht kleiner und es bleibt zu hoffen, dass nicht einer der letzten aktiven Analytiker gestorben ist.
Es wird doch keine Sünde sein, sich den Platz und damit verbundenen Stellenwert der Psychoanalyse an der Universität zu erhinken.
Eher wagen wir damit einen längst überfälligen Schritt. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass im Bereich der universitären Bildung Gerechtigkeit, also Aufnahme und Aufbau der Psychoanalyse und damit Vielfalt des Faches Psychologie herrscht, wenn wir nicht das Hochschulsystem gerecht gestalten, wie können wir dann von dem Einzelnen verlangen, dass die Kunst moralisch-gerecht zu sein, internalisiert wird?
Literaturverzeichnis
- Arendt, Hannah (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, Mün-chen
- Freud, Sigmund (1920): Jenseits des Lustprinzips. in: http://www.textlog.de/freud-psychoanalyse-schlussfolgerungen-jenseits-lustprinzips.html, Stand: 16.01.2012
- Grünbaum, Adolf (1988): Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik, Stuttgart
- Joachim, Küchenhoff (2005): Die Psychoanalyse – Eine zeitgemäße Wissenschaft?. Erfolg und Krise der Psychoanalyse, in: http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdfs/kuechenhoff.pdf, Stand: 16.01.2012
- Kutter, Peter (2004): Psychoanalytische Interpretation und empirische Methoden. Auf dem Weg zu einer empirisch fundierten Psychoanalyse, Gießen
- Mitscherlich, Alexander (1984): Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt am Main
- Moser, Tillmann (1974): Lehrjahre auf der Couch. Bruchstücke meiner Psychoanaly-se, Frankfurt am Main
- Müller-Pozzi, Heinz (32002): Psychoanalytisches Denken. Eine Einführung, Bern